Stürmisch gefeierter Pianist Bela
Hartmann mit den drei letzten Sonaten in der Villa Bosch
Der überzeitliche Franz Schubert
VON
GERHARD HELLWIG
Es muss kein „Steinway”
sein, um der ganzen Palette des Klanglichen zu entsprechen. Ein gut
gestimmter “Blüthner” (Leipzig) besitzt die verwandten Vorausetzungen,
sofern er mit dem 1876 patentierten Aliquotsystem ausgerüstet ist. Der in
der Villa Bosch zur Verfügung stehende Stutzflügel ist ein solcher. Das
bedeutet, dass außer den angeschlagenen Saiten jeweils eine zusätzliche
Saite in der Oberoktav zum Mitschwingen gebracht wird. Bela Hartmann machte
im Rahmen des „Musikalischen Herbstes”, anläßlich des Todestages von
Schubert (19. November) seine drei letzten Klaviersonaten zum Ereignis.
Dicht an dicht saßen die Zuhörer, bedachten den 34jährigen, in Stuttgart
geborenen Pianisten mit frenetischem Beifall. Das war der Lohn für einen
Schubert, den Bela Hartmann in überzeitlicher Bedeutsamkeit nachempfand.
Schubert nicht als Träumer, sondern als Bezwinger seines persönlichen, mit
Enttäuschungen und Krankheit behafteten Lebens. Hartmann hat sich aus seinem
angeborenen Talent heraus diesem Komponisten mit Intelligenz genähert.
Hauptmerkmal seiner Interpretationen ist die Stille, die bisweilen zum
Himmel schreit. Heftig waren die Anfangstakte des Allegro zur Sonate c-Moll,
Deutschverzeichnis 958, wie weggewischt, um den gleitenden Tonartwechseln
(Modulationen) sprechenden Raum zu geben. Im folgenden Aufbruch wollte man
in Hartmanns trotzig aufbäumenden Läufen und Oktavgängen Beethoven
ausmachen. Aus dem schlicht beginnenden As-Dur Adagio keimte die
geheimnisvolle Akkordfolge. Das so ungewöhnlich von Schubert gefasste
Menuett hatte tragischen Zuschnitt, und für das Schluß-Allegro brachte Bela
Hartmann das Nachdenkliche melodiebetont als Balsam für die Seele ein. Was
in der Sonate A-Dur, D 959, mit dem Allegro so kraftvoll optimistisch
beginnt, das ließ Hartmann, vorlagengetreu, im Andantino in dunkle Tiefen
abstürzen – kein Laut der Zuhörer drang in diese Stille, gleich einem
Kompliment für den Pianisten, der mit diesem Satz in Bann zog. Als
souveräner Techniker erwies sich Hartmann in den springenden Rhythmen und
perlenden Läufen des Scherzo, das nach Pausenabbrüchen immer wieder
Schuberts Einfälle heraussprudeln läßt. Im Schluss-Rondo stellte sich die
Balance zwischen einschmeichelnder Melodie und dämonischer Bedrohung ein –
ganz Schubert, wie er leibt und lebte im Wechsel von Niedergeschlagenheit
und kurzer Befreiung. Bela Hartmann krönte seinen Einsatz für Schuberts
schaurig-flackernden Lebensgang mit der B-Dur Sonate, D 960. Im Todesjahr
1828 komponiert, ist dieses Werk ein Dokument musikgeschichtlicher
Zerrissenheit. Bela Hartmann offenbarte mit dieser Wiedergabe den „Einspruch
gegen den Fluss der Musik und damit der Zeit selbst”, wie Dieter Schnebel es
formuliert hat. Dennoch: Das Wechselhafte, das Unterbrechen von Phrasen, das
Bildhafte von gefrorenen Tränen, die wieder zum Auftauen gebracht werden
(Schlusstake des Andante sostenuto), das Seltsam-Scherzende (Allegro vivace
con delicatezza) hatte unter den Händen von Bela Hartmann bindende
Kontinuität, und keine „marktgängige Sentimentalität” (Herbert Marcuse)
verletzte den überzeitlichen Franz Schubert. |