Erinnerungen an Vadim Suchanow (1949-2024) - Click here for a version in English

Foto: Olga Salogina

 

Diese Erinnerungen an meinen ehemaligen Klavierlehrer entstanden aus dem Wunsch, mich von ihm mit Dankbarkeit und Respekt zu verabschieden. Trotz meines mehrjährigen Studiums bei ihm und einiger Recherchen über sein Leben weiß ich recht wenig Konkretes über seinen Werdegang. Dies wird wohl teils in seiner Existenz als Flüchtling/Emigrant begründet sein, dessen Familie und Hintergrund geographisch und politisch weit entfernt liegen, aber auch in seinen nicht ganz einfachen persönlichen Beziehungen. Seine Eltern sind vermutlich nicht mehr am Leben, aber er hatte zumindest einen Halbbruder und Neffen in Moskau, zu denen er allerdings in den letzten Jahren wohl keine Verbindung mehr hatte. Wenn sich also Irrtümer und Ungenauigkeiten in diese Erinnerungen hineingeschlichen haben, wäre ich für Korrekturen sehr dankbar, und wenn seine Geschichte hier hauptsächlich aus meiner Perspektive erzählt wird, geschieht dies aus Mangel an anderen, die mir zur Verfügung stehen.

Vadim Suchanow war ein 1949 in Vladivostok geborener hochangesehener russischer Pianist und Klavierlehrer, der nach seiner Absetzung aus Moskau in den Westen um 1980 hauptsächlich in München lebte. Er ist vor kurzem unbemerkt gestorben, nach langen Jahren in denen er sich in ein Leben mit nur ganz wenigen Kontakten zurückgezogen hatte, wird aber mit Sicherheit von unzähligen ehemaligen Schülern und Bekannten mit Dankbarkeit und Wärme bedacht. Er war in meiner Schulzeit einige Jahre lang mein Lehrer, und mein heutiges Leben als praktizierender Konzertpianist wäre ohne seine Hilfe und Betreuung unmöglich geblieben; man findet unter seinen Schülern zahlreiche recht prominente Pianisten und Preisträger wichtiger Wettbewerbe. Seine Persönlichkeit war komplex: er war ein großzügiger und warmherziger Mensch, der aber gleichzeitig sogar zu seinen engsten Freunden borstig und abweisend sein konnte. Sein einsamer Tod wird daher viele aus seinem Umkreis traurig stimmen aber auch nicht überraschen. Er gab allerdings so viel Gutes an so viele junge Pianisten, und wurde auch von vielen großen Kollegen so hoch geachtet, daß er es wahrlich verdient von mehr als nur einer Handvoll ehemaliger Schüler verabschiedet in gänzliche Anonymität zu versinken.

 

Foto: Claudio Carbó Montaner

Ich hatte Dima, wie er es vorzog genannt zu werden, durch den genialen zyprischen Pianisten Nicolas Economou kennengelernt, nachdem ich diesen beim ARD Wettbewerb bat, ihm vorspielen zu dürfen. Nicolas hörte mich an und lud mich ein, sein Schüler zu werden, wobei er hinzufügte er sei eigentlich kein Lehrer – ich solle gleichzeitig regelmäßigen Unterricht bei seinem Freund Dima Suchanow nehmen. Ich nahm seine Einladung an und war danach oft bei Nicolas zu Hause, wo ich auch Dima kennenlernte, der sich bereit erklärte bei diesem Plan mitzumachen. Er unterrichtete damals am Richard-Strauss-Konservatorium am Gasteig, vom Niveau etwas niedriger gestellt als die Hochschule für Musik. Dimas Zimmer war relativ klein, mit zwei Flügeln. Ich war zu Beginn nur 15 Jahre alt, kam wie einige andere seiner Schüler also nur als Privatschüler. Da ich meist recht früh zum Unterricht eintraf erlebte ich oft den letzten Teil der vorigen Stunde mit und sah, wie Dima mit anderen Schülern umging. Er konnte ein furchterregender Lehrer sein: er wurde oft laut und ungeduldig, und oft flossen Tränen. Man mußte sich eine dicke Haut zulegen. Er hatte ein breites Repertoire von Möglichkeiten, Kritik auszuüben, manchmal fantasievoll, manchmal bunt, meist geistreich. Ich erinnere mich besonders an eine Stunde in der ich an einer Chopin Etude arbeitete: Dima ärgerte sich über die vielen falschen Töne, die ich spielte, wurde immer aufgebrachter – wieder falsch, rief er – aber der stimmte doch, wandte ich ein, der war nicht falsch – aber beinahe, rechtfertigte sich Dima. Schließlich sagte er ganz ruhig: Béla, was ist los, du spielst so ängstlich, macht es dir keinen Spaß? Wie streng er auch im Unterricht sein konnte wußte Dima aber auch wie er einem Glauben geben konnte. Wenn er etwas lobte war man sehr stolz! Er gab mir immer das Gefühl, er glaube ich könnte etwas besonderes schaffen. Die Intensität seiner Anforderungen und die Dichte an Detail die er verlangte gaben seinem Lob dann auch eine Riesenkraft.

Diese Dichte an Detail war etwas ganz Neues für mich, wie auch seine Anforderungen was Lernen und Einüben betraf. Neue Stücke sollten alleine eingeübt werden und innerhalb ein oder zwei Wochen auswendig im Unterricht vorgespielt werden. Dima war an einem mühevollem Durchschleppen durch neue Stücke nicht interessiert. Das akribische Vorbereiten mit detaillierten Anweisungen und Fingersätzen war nicht sein Ding. Ich sollte das selber übernehmen, und wenn es etwas zu verbessern oder ändern gab machten wir es danach im Unterricht. Irgendwann am Anfang hatte ich einmal gedacht ich könnte mir Notizen in den Noten machen, was es zu tun gab, Fingersätze usw, aber das gefiel Dima gar nicht. Behalte es im Kopf, sagte er, alles aufschreiben ist kindisch. So mußte ich viel selbstständiger in meiner Arbeit werden als ich es mir vorher hätte vorstellen können. Ich hatte dabei von Dima den Eindruck, daß er selber in seinem Studium durchaus auch Schwierigkeiten gekannt hatte, nicht zuletzt technische Schwierigkeiten, und daß er mit Mühe und Fantasie Lösungen hatte finden müssen, ungewohnte Fingersätze zum Beispiel, oder Umverteilungen der Noten zwischen den Händen. Diese Fantasie paßte sehr gut zu mir, da ich spät zu diesem pianistischen Niveau kommend viele Schwächen in meinem Spiel hatte, die genau solche flexible und ungewohnte Lösungen brauchten. Dabei war Dima ziemlich unberechenbar mit diesen Umverteilungen. Einmal zeigte ich ihm in einem Chopin Stück stolz eine Lösung, die ich mir ausgedacht hatte, die er aber ablehnte mit der Begründung, Chopin sei ein exzellenter Pianist gewesen, der sich schon etwas dabei gedacht hatte, als er das Stück so schrieb. Diese Subtilitäten waren aber nicht immer folgerichtig, und am nächsten Tag konnte es wieder anders aussehen. Man konnte Dima nicht vorwerfen, zu systematisch oder vorhersehbar zu sein. Andererseits kann man das auch von den meisten großen Klavierwerken sagen, und so war dieser sein Zugang zwar oft verwirrend und kompliziert aber auch flexibel und kreativ. Ich lernte, daß man jedes Problem für sich anschauen und lösen muß. Und das jedes Problem immer wieder neu gelöst werden muß.

Der Hauptteil des Unterrichts bestand im gemeinsamen Üben, wobei Dima am zweiten Klavier saß, und wir immer wieder kleine Phrasen wiederholten, zuerst er, dann ich, bis er entweder aufgab oder ich es kapiert hatte. Es ging um Ton, Legato, Phrasierung. Dieser Prozeß hat sich bei mir fest verankert, das Zeigen, Hören, Üben, Wiederholen, bis es sitzt. Wenn Dima mir vorspielte brachte er die schönsten Klänge aus dem Flügel, die ich gehört hatte. Nicht schön in dem Sinn von reiner Klangfarbe wie mein späterer Lehrer John Bingham von seinen Studien bei Stanislav Neuhaus gelernt hatte. Es war die Schönheit des Zusammenklanges, die Durchsichtigkeit, das perfekte Gleichgewicht der verschiedenen Töne, wie das Zusammenspiel eines perfekt ausgeglichenen Ensembles. Dieser Aspekt seines Unterrichts, die Fähigkeit Harmonien Ton für Ton auseinanderzuhören und orchestral wieder zusammenzusetzen blieb mir am tiefsten im Gedächtnis und ist mir bis heute ein Leitziel geblieben. Er sprach wenig über Klang, nur wenn etwas besonders schief gegangen war, aber durch sein Beispiel wurde Klang ein zentrales Element seiner Pädagogik. Er spielte selbst mit einer gewissen Sanftheit, ganz im Stil des milderen Gilels, oder besser des Sofronitzky. Dima glaubte auch sehr an den Wert einer breiteren kulturellen Bildung, empfahl eine gute Kenntnis nicht nur der Klaviermusik. Ob es um Romane von Stendhal oder Tolstoi ging oder um Gemälde von Masaccio, viele seiner Anregungen bleiben bis heute zentrale Momente in meinem Leben. Er repräsentierte für mich eine Sicht der Musik mit der ich mich identifizieren konnte und die mit meiner Persönlichkeit durchaus harmonisierte; wenn er mich gelegentlich überraschte mit einer unerwarteten Bewertung mußte ich es immer sehr ernst nehmen und meine Einstellungen hinterfragen.
 


Als Musiker hatte Dima eine bescheidene aber doch handfeste Karriere. Er hatte als Student wichtige internationale Preise gewonnen (Prager Frühling, Geza Anda in Zürich) und trat zu meiner Zeit regelmäßig in guten Sälen auf. Ein Konzert bleibt mir besonders in Erinnerung: Ein Klavierabend im großen Saal der Münchner Musikhochschule, mit dem “Müller und der Bach” und “Erlkönig“ von Schubert und Liszt, der “Wanderer” Fantasie, und dann in der zweiten Hälfte Schumanns “Winterzeit 1&2” aus dem Album der Jugend und den Symphonischen Etüden. Es war ein tolles Konzert. Ich erinnere mich besonders an die lange Pause, die er zwischen den Variationen und dem Finale der Etüden setzte, und dadurch den Fluß unterbrach. Es war ein kleines Detail das aber auf mich atemberaubend wirkte. Ein weiterer Klavierabend einige Zeit später gab vielleicht ein Anzeichen weswegen Dima nicht mehr Konzerte in seinem Kalender hatte: Er hatte viele Kontakte unter russischen Musikern und war zu der Zeit besonders eng mit Natalia Gutman und ihrem Ehemann, dem Geiger Oleg Kagan befreundet, der gerade in einem Münchner Krankenhaus an einem Krebsleiden im Sterben lag. Dima hatte viele Tage bei Kagan im Krankenhaus verbracht, war emotional und physisch erschöpft, mußte aber in Augsburg einen Klavierabend geben der vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten wurde. Der Klavierabend war wunderbar, mit der Polonaise-Fantasie von Chopin, der dritten Sonata von Scriabin und der dritten von Chopin, wenn ich mich recht erinnere. Ein heftiges Programm, das er mit großem Erfolg spielte, wenn auch mit gelegentlichen Patzern und Gedächtnislücken. Seine Laufbahn ging aber weiter, und er spielte sogar einen Klavierabend anläßlich eines Staatsbesuches von Michail Gorbatschow. Hin und wieder gab er auch Meisterkurse – einige Jahre lang in Seoul, das ihm gut gefiel da es unweit von Vladivostok lag.

Oft erzählte Dima von seiner Moskauer Zeit, wobei ich natürlich keine Möglichkeit habe, diese Geschichten irgendwie zu überprüfen. Er scheint bei der crème de la crème der russischen Musikwelt ein hohes Ansehen genossen zu haben: er war ein guter Freund von Schostakowitsch, ein enger Freund dessen Sohnes Maxim und der Klavierlehrer dessen Enkels Dmitri Jnr. Er war gut mit Gilels befreundet aber hatte auch gutnachbarliche Beziehungen zu Swjatoslaw Richter. David Oistrach gehörte auch zu seinen guten Bekannten. Seine Geschichten über seine Zeit am Konservatorium in Moskau waren etwas weniger warmherzig. Nach Abschluß an der Zentralen Musikschule wurde er in das Konservatorium aufgenommen als Schüler von Jakub Flier, dessen Assistent er später wurde. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas überschattet war im Vergleich zu seinen Kommilitonen, daß seine Stärken in der Klasse nicht zur Geltung kamen. Später wechselte er zu Dmitri Bashkirov und wurde dessen Assistent – diese Beziehung verlief harmonischer und hielt viele Jahre an: bis in meine Zeit schickte Bashkirov regelmäßig seine eigenen Schüler von Madrid nach München, um bei Dima zu lernen.

 

Foto: Claudio Carbó Montaner

Wie schon angedeutet hatte Dima einen prägenden Einfluß auf meine allgemeinen musikalischen Werturteile. Ich war ein junger Musikstudent ganz nach dem Beispiel von Berlioz: sehr eigensinnig und rechthaberisch, große Musiker pauschal abkanzelnd und wiederum unbekannte Künstler hochpreisend. Hierbei war Dima keinesfalls neutral – seine eigene Meinungen über prominente Pianisten konnten scharf vernichtend sein, aber immer auch überraschend positiv wo man es am wenigsten vermuten würde. Im Laufe der Zeit wurden meine Urteile allmählich etwas milder, was aber blieb war die Erkenntnis daß Ruhm keineswegs Qualität bedeutet und dagegen viele große Musiker im Schatten arbeiten. Dima war immer zugegen mit unerwarteten Kommentaren („Horowitz hat es nie geschafft, das 3. Scherzo [Chopin] richtig zu spielen“) und diese äußerst frappanten Aussagen zwangen mich dazu, meine eigenen Einstellungen ständig zu überprüfen, was natürlich eine wichtige Lehre für das Leben war. Von ihm stammt meine große Liebe für Schubert, und meine lebenslange Zuneigung für Wilhelm Furtwängler hat auch seine Wurzeln in Dimas Kommentaren. Er selbst schätzte besonders musikalische Konzepte, die das Werk in ein neues Licht rückten, oder es gar schwer zu erkennen machten. Als er einst mit seinem Freund Afanassiew eine CD der Brahms'schen Sonate für 2 Klaviere machte war er zunächst enttäuscht, daß kurz darauf seine gute Freundin Martha Argerich mit ihrem damaligen Partner Alexander Rabinovich dieselbe Sonate aufnahm, und zwar, für Martha nicht untypischerweise, etwas schneller und aufregender. Daraufhin beruhigte er sich und meinte ganz ernsthaft, und aufrichtig wie mir schien, daß eine Art „edle Langweile“ auch gut sei, und daß aufregend nicht immer die beste Eigenschaft in der Musik sei.

Meine Studienzeit bei Dima endete als ich nur spärlich vorbereitet am Montreal International Piano Competition teilnahm. Er war zunehmend ungeduldig geworden als es allmählich deutlich wurde, daß ich nicht gut spielen würde, aber als ich darauf bestand trotzdem hinzufahren teilte er mir per Postkarte mit, ich solle gehen und nicht wiederkommen. In meiner jetzigen Tätigkeit als Lehrer verstehe ich seine Haltung, doch es kam als gewaltiger Schock. Einige Jahre zuvor hatte ich dem englischen Pianisten John Bingham vorgespielt der mir einen Platz am Trinity College London anbot, doch damals hatte ich mich für Dima entschieden. Schnell wurde eine Aufnahmeprüfung organisiert und zwei Monate später war ich Student in London, in einer völlig anderen musikalischen Umgebung. Nach ein oder zwei Jahren Funkstille schrieb ich Dima einen Brief in dem ich mich entschuldigte und bedankte für alles was er für mich getan hatte. Er antwortete sehr herzlich und besuchte mich sogar in London. Als meine Zeit dort dem Ende zuging schlug er vor in München bei Elisso Wirssaladse vorzuspielen, die gerade eine neue Klasse an der Hochschule aufbaute. Durch seine Freundschaft mit ihr bekam ich einen Platz und ein neues Kapitel begann für mich, und für unsere Freundschaft.

 



Wirssaladse verbrachte jeden Monat eine Woche in München, in der ihre Schüler, über Europa verteilt, die Reise nach München machten und zusammen täglich Unterricht hatten. Ich hatte vom Tillett Trust erfolgreich ein Stipendium für die Reisespesen beantragt, brauchte aber noch ein Zimmer in München zum Wohnen. Dima bot mir sein Haus in der Auerspitzstrasse an, und so wohnte ich ein paar Tage in jedem Monat bei ihm und lernte dabei sein Privatleben kennen, welches ich als Teenager natürlich nicht gekannt hatte. Er war ein sehr großzügiger Gastgeber und teilte gerne alles was er besaß. Mein Zimmer war oben im ersten Stock, doch ich verbrachte die meiste Zeit unten im Wohnzimmer, beim Üben, Schwätzen oder Musikhören. Kochen bedeutete damals für Dima chinesische Nudeln mit Gewürzmischung, und Trinken bedeutete zunächst einige Flaschen Bier, dann mehrere Flaschen Wein und zum Schluß Schnaps, jeden Abend. Nüchternheit war gegen Ende des Abends selten. Dima war nicht von Natur aus am Haushalt interessiert: Überall herrschte Chaos, und ich versuchte meine Dankbarkeit mit Aufräumen, Putzen und Einkaufen auszudrücken. Wäsche waschen war auch nicht sein Fall, er trug seine Kleider bis sie zu stinkig wurden und warf sie dann auf einen großen Haufen in einem dafür gesonderten Zimmer im ersten Stock. Dieses Zimmer galt es zu vermeiden. Jede paar Wochen kaufte er sich ein Menge neue Kleider, so daß dieser Haufen im Laufe der Zeit recht umfangreich wurde. Im Sommer besuchte ihn dann seine Mutter aus Vladivostok. Sie war eine sehr fröhliche und herzliche Dame und verbrachte nahezu die ganze Zeit damit, das Haus von Grund auf zu reinigen und die Wäschehaufen zu waschen, so daß in der Zeit der überwachsene Garten von einem dichten Netz improvisierter Wäscheleinen und trocknender Wäsche bedeckt war. Ich war meist nicht dabei, da es in den Sommerferien war, aber bei jeder Begegnung mit ihr war sie sehr freundlich. Wie ihre Beziehung zu Dima war konnte ich nicht beurteilen, aber sie schienen zumindest oberflächlich harmonisch. Gelegentlich übte auch Dima, wenn zum Beispiel ein Konzert bevorstand – in der Zeit arbeitete er viel mit Natalia Gutman. Ich habe besonders das c-Moll Trio von Brahms in Erinnerung. Ich hatte es vorher nicht gekannt und es schien ein Meisterwerk zu sein, voller spannender Synkopen und harmonischer Wendungen. Es hat aber nie die gleiche Wirkung auf mich gehabt wie damals, egal welche Aufnahmen ich seit dem anhörte. Manchmal half er mir auch bei meinem Üben, hielt sich aber meist zurück aus Respekt für Wirssaladse.

Oft besuchte Dima die Klasse von Wirssaladse in der Hochschule. Er hörte sich eine Weile den Unterricht an und ging dann mit ihr essen oder spazieren. Bei diesen Besuchen war er immer sehr kühl mir gegenüber, vermutlich um seine Beziehungen nicht zu vermischen. Ich brauchte eine Weile um mich an diese Distanz zu gewöhnen, verstand sie aber nicht persönlich zu nehmen. Trotz seines etwas chaotischen Lebensstils war Dima doch auf gewisse Formalitäten erpicht, besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen. Er hatte keine Hemmungen anderen die kalte Schulter zu geben wenn er sich mißachtet fühlte weil jemand sich zu spät meldete, oder gewisse Förmlichkeiten außer Acht ließ. Ich sah mehrmals wie er vielversprechende Schüler abwies weil sie nicht die passenden Empfehlungen brachten oder irgendwelche Förmlichkeiten nicht befolgt hatten, gleich, ob sie diese Förmlichkeiten überhaupt kannten. Zu Hause benutzte Dima einen Anrufbeantworter, damals nicht allzu weit verbreitet, mit dem er abhören konnte wer gerade bei ihm anrief, und sich überlegen ob derjenige eine Antwort verdiente oder er selbst Konversationsbedarf verspürte. Mir war immer sehr mulmig wenn ich ihn anrief da ich beim Sprechen auf seinem Apparat nie wußte ob er jetzt Lust zu sprechen hatte oder ob er einfach nicht zu Hause war. Heute sind solche Situationen durch das Anzeigen der Anrufnummern und der Gebrauch von Handys ganz anders. Möglicherweise war es durch den Alkohol daß Dima sehr wechselhaft in seinen Launen sein konnte, aber er sprach oft sehr schlecht über seine Bekannte und Schüler. Im Rückblick denke ich, daß er vermutlich Depressionen hatte, die vom Alkohol verschlimmert wurden. Ihm war sehr bewußt, daß er ein viel besserer Pianist und Lehrer war als seine Realität widerspiegelte, aber er litt auch an Unsicherheit über sein Spiel, besonders in technischer Hinsicht. Er merkte auch dankbar wie oft seine besser gestellten Freunde versuchten, ihm zu helfen, ob durch Kammermusik wie Gutman, Afanassiew oder Wirssaladse oder durch das Weiterleiten von Schülern, wie Bashkirov. Er war nie verbittert über den größeren Ruhm oder Erfolg seiner Freunde: im Gegenteil bewunderte er das, was sie besser konnten als er, und sagte sogar gelegentlich seinen Schülern, daß sie etwas besser machten als er es könnte. Diese Hilfe, die von seinen Freunden oder Bekannten kam, half eine Weile aber ohne die Situation langfristig zu verändern. Mein Eindruck – rein gefühlsmäßig, sozusagen – war, daß Dima von seinem Studium gewisse Komplexe mitbekommen hatte, und daß seine Emigration in seinem Bewußtsein ihn um eine viel handfestere Karriere und ein einfacheres persönliches Leben beraubt hatte. Nach dem Fall des Kommunismus war es schon zu spät, Rußland war ihm entfremdet und nur zum Gelegenheitsbesuch geeignet. Es ging sicher vielen anderen Flüchtlingen ebenso. Der letzte Schlag kam als das Konservatorium dann in die Hochschule einverleibt wurde: einige RSK Professoren wurden gleichbürtig in die Hochschule übernommen, aber Dima wurde übergangen und bekam Zweitfachstudenten und sogar Gruppenunterricht. Vermutlich hatte er sich nicht genug um Networking und Schmeichelei gekümmert um sich als fähiger Professor zu beweisen. In erster Linie war das eine kolossale Dummheit der Hochschule, aber für Dima war es das Zeichen, daß ihm keine Zukunft blieb. Er zog sich ganz zurück in ein Leben mit nur ganz wenigen Freunden und kaum öffentlicher Tätigkeit.

Dima hat vielen Menschen, Schülern und Musikliebhabern geholfen und wertvolle Momente geschenkt, und sie werden dankbare und herzliche Erinnerungen an ihn haben, und über seinen einsamen Tod trauern. Abgesehen von seinem Hang, andere plötzlich abzuschneiden und gelegentlich persönliche Vorwürfe zu machen habe ich nie von anderen Beschuldigungen gegen ihn gehört, in einer Welt wo Eitelkeit, Manipulation, Korruption und Sexismus gang und gäbe sind. In dieser Hinsicht halte ich Dima für einen von Grund aus anständigen Menschen mit einem tiefen moralischen Sinn, aber eben einen mit großen persönlichen Unsicherheiten was seine Stellung in der Welt und unter seinen Mitmenschen betraf. Als ich ihn 1989 anrief um ihm vom Tode von Vladimir Horowitz zu unterrichten war sein Kommentar: „Na, der Glückliche, endlich ist er diese schlimme Welt los“. Ich hoffe, Dima ist jetzt im Frieden mit dieser schlimmen Welt, und daß er weiß, wie viel Bewunderung und Dankbarkeit diese schlimme Welt für ihn hat.

 


Foto: Olga Salogina


Einige Skizzen von besonderen Momenten mit Dima:


Ein zauberhafter Abend bei mir zu Hause mit Dima und dem leidenschaftlichen Kommunisten Nicolas Economou, und wie sie zusammen mit meiner tschechischen Emigrantenmutter Wodka tranken und alte kommunistische Lieder sangen. Dima sprach selten über Politik, abgesehen von den üblichen Klagen über Korruption usw. Ich hatte keine Ahnung was seine eigene politische Haltung war.

Ein Besuch im Münchner Zoo mit Dima. Wir kamen gerade zum Löwengehege als ein müder und gelangweilter Löwe sich auf eine noch müdere und gelangweiltere Löwin schleppte um zu paaren. „Wie schön, sie haben auf uns gewartet!“ sagte Dima.

Gemeinsames Radeln durch die Wälder im Süden Münchens. Dima konnte manchmal überraschend gesundheitsbewußt sein.

Alte Aufnahmen anhören in Dimas Haus. In jenen Tagen der Schallplatte war es viel schwieriger überhaupt von der Existenz alter Aufnahmen zu wissen. Bartók mit Scarlatti, Egon Petri mit Schubert/Liszt Liedern zu hören war ein Erlebnis, das durch Dimas Kommentare noch besonderer wurde.

Dimas Geschichten von seinem Leben in Moskau hören. Seine Bekanntschaft mit Maria Yudina, seine Erzählungen von Oistrach, seine Berichte von seinem Nachbarn Richter, der tagelang an der gleichen Symphonischen Etude arbeitete. Von Blattspielwettbewerben im Konservatorium und von Radu Lupu, der auch verkehrte Seiten vom Blatt spielen konnte. Von der Großzügigkeit von Schostakowitsch, von seiner geplanten Ehe mit Elena Gilels. Von Dmitri Alexeev und wie Bashkirov ihn vor der ganzen Klasse ausschimpfte als er nach seinem Sieg in Leeds sein Wettbewerbsprogramm vorspielte.

Spaziergänge mit Dima durch London als ich am Trinity College studierte.

Seine merkwürdigen Eßgewohnheiten: getrocknete chinesische Nudeln in einem Wasserkocher eingetaucht und dann mit geschmacksverstärkter Gewürzmischung bedeckt. Nach ein paar Tagen davon fühlte man sich sehr eigenartig!

 

 


 

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