Foto: Olga Salogina
Diese Erinnerungen
an meinen ehemaligen Klavierlehrer entstanden aus dem Wunsch, mich von ihm mit
Dankbarkeit und Respekt zu verabschieden. Trotz meines mehrjährigen Studiums bei
ihm und einiger Recherchen über sein Leben weiß ich recht wenig Konkretes über
seinen Werdegang. Dies wird wohl teils in seiner Existenz als Flüchtling/Emigrant
begründet sein, dessen Familie und Hintergrund geographisch und politisch weit
entfernt liegen, aber auch in seinen nicht ganz einfachen persönlichen
Beziehungen. Seine Eltern sind vermutlich nicht mehr am Leben, aber er hatte
zumindest einen Halbbruder und Neffen in Moskau, zu denen er allerdings in den
letzten Jahren wohl keine Verbindung mehr hatte. Wenn sich also Irrtümer und
Ungenauigkeiten in diese Erinnerungen hineingeschlichen haben, wäre ich für
Korrekturen sehr dankbar, und wenn seine Geschichte hier hauptsächlich aus
meiner Perspektive erzählt wird, geschieht dies aus Mangel an anderen, die mir
zur Verfügung stehen.
Vadim Suchanow war ein 1949 in Vladivostok geborener hochangesehener russischer
Pianist und Klavierlehrer, der nach seiner Absetzung aus Moskau in den Westen um
1980 hauptsächlich in München lebte. Er ist vor kurzem unbemerkt gestorben, nach
langen Jahren in denen er sich in ein Leben mit nur ganz wenigen Kontakten
zurückgezogen hatte, wird aber mit Sicherheit von unzähligen ehemaligen Schülern
und Bekannten mit Dankbarkeit und Wärme bedacht. Er war in meiner Schulzeit
einige Jahre lang mein Lehrer, und mein heutiges Leben als praktizierender
Konzertpianist wäre ohne seine Hilfe und Betreuung unmöglich geblieben; man
findet unter seinen Schülern zahlreiche recht prominente Pianisten und
Preisträger wichtiger Wettbewerbe. Seine Persönlichkeit war komplex: er war ein
großzügiger und warmherziger Mensch, der aber gleichzeitig sogar zu seinen
engsten Freunden borstig und abweisend sein konnte. Sein einsamer Tod wird daher
viele aus seinem Umkreis traurig stimmen aber auch nicht überraschen. Er gab
allerdings so viel Gutes an so viele junge Pianisten, und wurde auch von vielen
großen Kollegen so hoch geachtet, daß er es wahrlich verdient von mehr als nur
einer Handvoll ehemaliger Schüler verabschiedet in gänzliche Anonymität zu
versinken.
Foto: Claudio Carbó Montaner
Ich hatte Dima, wie er es vorzog genannt zu werden, durch den genialen
zyprischen Pianisten Nicolas Economou kennengelernt, nachdem ich diesen beim ARD
Wettbewerb bat, ihm vorspielen zu dürfen. Nicolas hörte mich an und lud mich ein,
sein Schüler zu werden, wobei er hinzufügte er sei eigentlich kein Lehrer – ich
solle gleichzeitig regelmäßigen Unterricht bei seinem Freund Dima Suchanow
nehmen. Ich nahm seine Einladung an und war danach oft bei Nicolas zu Hause, wo
ich auch Dima kennenlernte, der sich bereit erklärte bei diesem Plan mitzumachen.
Er unterrichtete damals am Richard-Strauss-Konservatorium am Gasteig, vom Niveau
etwas niedriger gestellt als die Hochschule für Musik. Dimas Zimmer war relativ
klein, mit zwei Flügeln. Ich war zu Beginn nur 15 Jahre alt, kam wie einige
andere seiner Schüler also nur als Privatschüler. Da ich meist recht früh zum
Unterricht eintraf erlebte ich oft den letzten Teil der vorigen Stunde mit und
sah, wie Dima mit anderen Schülern umging. Er konnte ein furchterregender Lehrer
sein: er wurde oft laut und ungeduldig, und oft flossen Tränen. Man mußte sich
eine dicke Haut zulegen. Er hatte ein breites Repertoire von Möglichkeiten,
Kritik auszuüben, manchmal fantasievoll, manchmal bunt, meist geistreich. Ich
erinnere mich besonders an eine Stunde in der ich an einer Chopin Etude
arbeitete: Dima ärgerte sich über die vielen falschen Töne, die ich spielte,
wurde immer aufgebrachter – wieder falsch, rief er – aber der stimmte doch,
wandte ich ein, der war nicht falsch – aber beinahe, rechtfertigte sich Dima.
Schließlich sagte er ganz ruhig: Béla, was ist los, du spielst so ängstlich,
macht es dir keinen Spaß? Wie streng er auch im Unterricht sein konnte wußte
Dima aber auch wie er einem Glauben geben konnte. Wenn er etwas lobte war man
sehr stolz! Er gab mir immer das Gefühl, er glaube ich könnte etwas besonderes
schaffen. Die Intensität seiner Anforderungen und die Dichte an Detail die er
verlangte gaben seinem Lob dann auch eine Riesenkraft.
Diese Dichte an Detail war etwas ganz Neues für mich, wie auch seine
Anforderungen was Lernen und Einüben betraf. Neue Stücke sollten alleine
eingeübt werden und innerhalb ein oder zwei Wochen auswendig im Unterricht
vorgespielt werden. Dima war an einem mühevollem Durchschleppen durch neue
Stücke nicht interessiert. Das akribische Vorbereiten mit detaillierten
Anweisungen und Fingersätzen war nicht sein Ding. Ich sollte das selber
übernehmen, und wenn es etwas zu verbessern oder ändern gab machten wir es
danach im Unterricht. Irgendwann am Anfang hatte ich einmal gedacht ich könnte
mir Notizen in den Noten machen, was es zu tun gab, Fingersätze usw, aber das
gefiel Dima gar nicht. Behalte es im Kopf, sagte er, alles aufschreiben ist
kindisch. So mußte ich viel selbstständiger in meiner Arbeit werden als ich es
mir vorher hätte vorstellen können. Ich hatte dabei von Dima den Eindruck, daß
er selber in seinem Studium durchaus auch Schwierigkeiten gekannt hatte, nicht
zuletzt technische Schwierigkeiten, und daß er mit Mühe und Fantasie Lösungen
hatte finden müssen, ungewohnte Fingersätze zum Beispiel, oder Umverteilungen
der Noten zwischen den Händen. Diese Fantasie paßte sehr gut zu mir, da ich spät
zu diesem pianistischen Niveau kommend viele Schwächen in meinem Spiel hatte,
die genau solche flexible und ungewohnte Lösungen brauchten. Dabei war Dima
ziemlich unberechenbar mit diesen Umverteilungen. Einmal zeigte ich ihm in einem
Chopin Stück stolz eine Lösung, die ich mir ausgedacht hatte, die er aber
ablehnte mit der Begründung, Chopin sei ein exzellenter Pianist gewesen, der
sich schon etwas dabei gedacht hatte, als er das Stück so schrieb. Diese
Subtilitäten waren aber nicht immer folgerichtig, und am nächsten Tag konnte es
wieder anders aussehen. Man konnte Dima nicht vorwerfen, zu systematisch oder
vorhersehbar zu sein. Andererseits kann man das auch von den meisten großen
Klavierwerken sagen, und so war dieser sein Zugang zwar oft verwirrend und
kompliziert aber auch flexibel und kreativ. Ich lernte, daß man jedes Problem
für sich anschauen und lösen muß. Und das jedes Problem immer wieder neu gelöst
werden muß.
Der Hauptteil des Unterrichts bestand im gemeinsamen Üben, wobei Dima am zweiten
Klavier saß, und wir immer wieder kleine Phrasen wiederholten, zuerst er, dann
ich, bis er entweder aufgab oder ich es kapiert hatte. Es ging um Ton, Legato,
Phrasierung. Dieser Prozeß hat sich bei mir fest verankert, das Zeigen, Hören,
Üben, Wiederholen, bis es sitzt. Wenn Dima mir vorspielte brachte er die
schönsten Klänge aus dem Flügel, die ich gehört hatte. Nicht schön in dem Sinn
von reiner Klangfarbe wie mein späterer Lehrer John Bingham von seinen Studien
bei Stanislav Neuhaus gelernt hatte. Es war die Schönheit des Zusammenklanges,
die Durchsichtigkeit, das perfekte Gleichgewicht der verschiedenen Töne, wie das
Zusammenspiel eines perfekt ausgeglichenen Ensembles. Dieser Aspekt seines
Unterrichts, die Fähigkeit Harmonien Ton für Ton auseinanderzuhören und
orchestral wieder zusammenzusetzen blieb mir am tiefsten im Gedächtnis und ist
mir bis heute ein Leitziel geblieben. Er sprach wenig über Klang, nur wenn etwas
besonders schief gegangen war, aber durch sein Beispiel wurde Klang ein
zentrales Element seiner Pädagogik. Er spielte selbst mit einer gewissen
Sanftheit, ganz im Stil des milderen Gilels, oder besser des Sofronitzky. Dima
glaubte auch sehr an den Wert einer breiteren kulturellen Bildung, empfahl eine
gute Kenntnis nicht nur der Klaviermusik. Ob es um Romane von Stendhal oder
Tolstoi ging oder um Gemälde von Masaccio, viele seiner Anregungen bleiben bis
heute zentrale Momente in meinem Leben. Er repräsentierte für mich eine Sicht
der Musik mit der ich mich identifizieren konnte und die mit meiner
Persönlichkeit durchaus harmonisierte; wenn er mich gelegentlich überraschte mit
einer unerwarteten Bewertung mußte ich es immer sehr ernst nehmen und meine
Einstellungen hinterfragen.
Als Musiker hatte Dima eine bescheidene aber doch handfeste Karriere. Er hatte
als Student wichtige internationale Preise gewonnen (Prager Frühling, Geza Anda
in Zürich) und trat zu meiner Zeit regelmäßig in guten Sälen auf. Ein Konzert
bleibt mir besonders in Erinnerung: Ein Klavierabend im großen Saal der Münchner
Musikhochschule, mit dem “Müller und der Bach” und “Erlkönig“ von Schubert und
Liszt, der “Wanderer” Fantasie, und dann in der zweiten Hälfte Schumanns
“Winterzeit 1&2” aus dem Album der Jugend und den Symphonischen Etüden. Es war
ein tolles Konzert. Ich erinnere mich besonders an die lange Pause, die er
zwischen den Variationen und dem Finale der Etüden setzte, und dadurch den Fluß
unterbrach. Es war ein kleines Detail das aber auf mich atemberaubend wirkte.
Ein weiterer Klavierabend einige Zeit später gab vielleicht ein Anzeichen
weswegen Dima nicht mehr Konzerte in seinem Kalender hatte: Er hatte viele
Kontakte unter russischen Musikern und war zu der Zeit besonders eng mit Natalia
Gutman und ihrem Ehemann, dem Geiger Oleg Kagan befreundet, der gerade in einem
Münchner Krankenhaus an einem Krebsleiden im Sterben lag. Dima hatte viele Tage
bei Kagan im Krankenhaus verbracht, war emotional und physisch erschöpft, mußte
aber in Augsburg einen Klavierabend geben der vom Bayerischen Rundfunk
mitgeschnitten wurde. Der Klavierabend war wunderbar, mit der Polonaise-Fantasie
von Chopin, der dritten Sonata von Scriabin und der dritten von Chopin, wenn ich
mich recht erinnere. Ein heftiges Programm, das er mit großem Erfolg spielte,
wenn auch mit gelegentlichen Patzern und Gedächtnislücken. Seine Laufbahn ging
aber weiter, und er spielte sogar einen Klavierabend anläßlich eines
Staatsbesuches von Michail Gorbatschow. Hin und wieder gab er auch Meisterkurse
– einige Jahre lang in Seoul, das ihm gut gefiel da es unweit von Vladivostok
lag.
Oft erzählte Dima von seiner Moskauer Zeit, wobei ich natürlich keine
Möglichkeit habe, diese Geschichten irgendwie zu überprüfen. Er scheint bei der
crème de la crème der russischen Musikwelt ein hohes Ansehen genossen zu haben:
er war ein guter Freund von Schostakowitsch, ein enger Freund dessen Sohnes
Maxim und der Klavierlehrer dessen Enkels Dmitri Jnr. Er war gut mit Gilels
befreundet aber hatte auch gutnachbarliche Beziehungen zu Swjatoslaw Richter.
David Oistrach gehörte auch zu seinen guten Bekannten. Seine Geschichten über
seine Zeit am Konservatorium in Moskau waren etwas weniger warmherzig. Nach
Abschluß an der Zentralen Musikschule wurde er in das Konservatorium aufgenommen
als Schüler von Jakub Flier, dessen Assistent er später wurde. Ich hatte den
Eindruck, daß er etwas überschattet war im Vergleich zu seinen Kommilitonen, daß
seine Stärken in der Klasse nicht zur Geltung kamen. Später wechselte er zu
Dmitri Bashkirov und wurde dessen Assistent – diese Beziehung verlief
harmonischer und hielt viele Jahre an: bis in meine Zeit schickte Bashkirov
regelmäßig seine eigenen Schüler von Madrid nach München, um bei Dima zu lernen.
Foto: Claudio Carbó Montaner
Wie schon angedeutet hatte Dima einen prägenden Einfluß auf meine allgemeinen
musikalischen Werturteile. Ich war ein junger Musikstudent ganz nach dem
Beispiel von Berlioz: sehr eigensinnig und rechthaberisch, große Musiker
pauschal abkanzelnd und wiederum unbekannte Künstler hochpreisend. Hierbei war
Dima keinesfalls neutral – seine eigene Meinungen über prominente Pianisten
konnten scharf vernichtend sein, aber immer auch überraschend positiv wo man es
am wenigsten vermuten würde. Im Laufe der Zeit wurden meine Urteile allmählich
etwas milder, was aber blieb war die Erkenntnis daß Ruhm keineswegs Qualität
bedeutet und dagegen viele große Musiker im Schatten arbeiten. Dima war immer
zugegen mit unerwarteten Kommentaren („Horowitz hat es nie geschafft, das 3.
Scherzo [Chopin] richtig zu spielen“) und diese äußerst frappanten Aussagen
zwangen mich dazu, meine eigenen Einstellungen ständig zu überprüfen, was
natürlich eine wichtige Lehre für das Leben war. Von ihm stammt meine große
Liebe für Schubert, und meine lebenslange Zuneigung für Wilhelm Furtwängler hat
auch seine Wurzeln in Dimas Kommentaren. Er selbst schätzte besonders
musikalische Konzepte, die das Werk in ein neues Licht rückten, oder es gar
schwer zu erkennen machten. Als er einst mit seinem Freund Afanassiew eine CD
der Brahms'schen Sonate für 2 Klaviere machte war er zunächst enttäuscht, daß
kurz darauf seine gute Freundin Martha Argerich mit ihrem damaligen Partner
Alexander Rabinovich dieselbe Sonate aufnahm, und zwar, für Martha nicht
untypischerweise, etwas schneller und aufregender. Daraufhin beruhigte er sich
und meinte ganz ernsthaft, und aufrichtig wie mir schien, daß eine Art „edle
Langweile“ auch gut sei, und daß aufregend nicht immer die beste Eigenschaft in
der Musik sei.
Meine Studienzeit bei Dima endete als ich nur spärlich vorbereitet am Montreal
International Piano Competition teilnahm. Er war zunehmend ungeduldig geworden
als es allmählich deutlich wurde, daß ich nicht gut spielen würde, aber als ich
darauf bestand trotzdem hinzufahren teilte er mir per Postkarte mit, ich solle
gehen und nicht wiederkommen. In meiner jetzigen Tätigkeit als Lehrer verstehe
ich seine Haltung, doch es kam als gewaltiger Schock. Einige Jahre zuvor hatte
ich dem englischen Pianisten John Bingham vorgespielt der mir einen Platz am
Trinity College London anbot, doch damals hatte ich mich für Dima entschieden.
Schnell wurde eine Aufnahmeprüfung organisiert und zwei Monate später war ich
Student in London, in einer völlig anderen musikalischen Umgebung. Nach ein oder
zwei Jahren Funkstille schrieb ich Dima einen Brief in dem ich mich
entschuldigte und bedankte für alles was er für mich getan hatte. Er antwortete
sehr herzlich und besuchte mich sogar in London. Als meine Zeit dort dem Ende
zuging schlug er vor in München bei Elisso Wirssaladse vorzuspielen, die gerade
eine neue Klasse an der Hochschule aufbaute. Durch seine Freundschaft mit ihr
bekam ich einen Platz und ein neues Kapitel begann für mich, und für unsere
Freundschaft.
Wirssaladse verbrachte jeden Monat eine Woche in München, in der ihre Schüler,
über Europa verteilt, die Reise nach München machten und zusammen täglich
Unterricht hatten. Ich hatte vom Tillett Trust erfolgreich ein Stipendium für
die Reisespesen beantragt, brauchte aber noch ein Zimmer in München zum Wohnen.
Dima bot mir sein Haus in der Auerspitzstrasse an, und so wohnte ich ein paar
Tage in jedem Monat bei ihm und lernte dabei sein Privatleben kennen, welches
ich als Teenager natürlich nicht gekannt hatte. Er war ein sehr großzügiger
Gastgeber und teilte gerne alles was er besaß. Mein Zimmer war oben im ersten
Stock, doch ich verbrachte die meiste Zeit unten im Wohnzimmer, beim Üben,
Schwätzen oder Musikhören. Kochen bedeutete damals für Dima chinesische Nudeln
mit Gewürzmischung, und Trinken bedeutete zunächst einige Flaschen Bier, dann
mehrere Flaschen Wein und zum Schluß Schnaps, jeden Abend. Nüchternheit war
gegen Ende des Abends selten. Dima war nicht von Natur aus am Haushalt
interessiert: Überall herrschte Chaos, und ich versuchte meine Dankbarkeit mit
Aufräumen, Putzen und Einkaufen auszudrücken. Wäsche waschen war auch nicht sein
Fall, er trug seine Kleider bis sie zu stinkig wurden und warf sie dann auf
einen großen Haufen in einem dafür gesonderten Zimmer im ersten Stock. Dieses
Zimmer galt es zu vermeiden. Jede paar Wochen kaufte er sich ein Menge neue
Kleider, so daß dieser Haufen im Laufe der Zeit recht umfangreich wurde. Im
Sommer besuchte ihn dann seine Mutter aus Vladivostok. Sie war eine sehr
fröhliche und herzliche Dame und verbrachte nahezu die ganze Zeit damit, das
Haus von Grund auf zu reinigen und die Wäschehaufen zu waschen, so daß in der
Zeit der überwachsene Garten von einem dichten Netz improvisierter Wäscheleinen
und trocknender Wäsche bedeckt war. Ich war meist nicht dabei, da es in den
Sommerferien war, aber bei jeder Begegnung mit ihr war sie sehr freundlich. Wie
ihre Beziehung zu Dima war konnte ich nicht beurteilen, aber sie schienen
zumindest oberflächlich harmonisch. Gelegentlich übte auch Dima, wenn zum
Beispiel ein Konzert bevorstand – in der Zeit arbeitete er viel mit Natalia
Gutman. Ich habe besonders das c-Moll Trio von Brahms in Erinnerung. Ich hatte
es vorher nicht gekannt und es schien ein Meisterwerk zu sein, voller spannender
Synkopen und harmonischer Wendungen. Es hat aber nie die gleiche Wirkung auf
mich gehabt wie damals, egal welche Aufnahmen ich seit dem anhörte. Manchmal
half er mir auch bei meinem Üben, hielt sich aber meist zurück aus Respekt für
Wirssaladse.
Oft besuchte Dima die Klasse von Wirssaladse in der Hochschule. Er hörte sich
eine Weile den Unterricht an und ging dann mit ihr essen oder spazieren. Bei
diesen Besuchen war er immer sehr kühl mir gegenüber, vermutlich um seine
Beziehungen nicht zu vermischen. Ich brauchte eine Weile um mich an diese
Distanz zu gewöhnen, verstand sie aber nicht persönlich zu nehmen. Trotz seines
etwas chaotischen Lebensstils war Dima doch auf gewisse Formalitäten erpicht,
besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen. Er hatte keine Hemmungen anderen
die kalte Schulter zu geben wenn er sich mißachtet fühlte weil jemand sich zu
spät meldete, oder gewisse Förmlichkeiten außer Acht ließ. Ich sah mehrmals wie
er vielversprechende Schüler abwies weil sie nicht die passenden Empfehlungen
brachten oder irgendwelche Förmlichkeiten nicht befolgt hatten, gleich, ob sie
diese Förmlichkeiten überhaupt kannten. Zu Hause benutzte Dima einen
Anrufbeantworter, damals nicht allzu weit verbreitet, mit dem er abhören konnte
wer gerade bei ihm anrief, und sich überlegen ob derjenige eine Antwort
verdiente oder er selbst Konversationsbedarf verspürte. Mir war immer sehr
mulmig wenn ich ihn anrief da ich beim Sprechen auf seinem Apparat nie wußte ob
er jetzt Lust zu sprechen hatte oder ob er einfach nicht zu Hause war. Heute
sind solche Situationen durch das Anzeigen der Anrufnummern und der Gebrauch von
Handys ganz anders. Möglicherweise war es durch den Alkohol daß Dima sehr
wechselhaft in seinen Launen sein konnte, aber er sprach oft sehr schlecht über
seine Bekannte und Schüler. Im Rückblick denke ich, daß er vermutlich
Depressionen hatte, die vom Alkohol verschlimmert wurden. Ihm war sehr bewußt,
daß er ein viel besserer Pianist und Lehrer war als seine Realität
widerspiegelte, aber er litt auch an Unsicherheit über sein Spiel, besonders in
technischer Hinsicht. Er merkte auch dankbar wie oft seine besser gestellten
Freunde versuchten, ihm zu helfen, ob durch Kammermusik wie Gutman, Afanassiew
oder Wirssaladse oder durch das Weiterleiten von Schülern, wie Bashkirov. Er war
nie verbittert über den größeren Ruhm oder Erfolg seiner Freunde: im Gegenteil
bewunderte er das, was sie besser konnten als er, und sagte sogar gelegentlich
seinen Schülern, daß sie etwas besser machten als er es könnte. Diese Hilfe, die
von seinen Freunden oder Bekannten kam, half eine Weile aber ohne die Situation
langfristig zu verändern. Mein Eindruck – rein gefühlsmäßig, sozusagen – war,
daß Dima von seinem Studium gewisse Komplexe mitbekommen hatte, und daß seine
Emigration in seinem Bewußtsein ihn um eine viel handfestere Karriere und ein
einfacheres persönliches Leben beraubt hatte. Nach dem Fall des Kommunismus war
es schon zu spät, Rußland war ihm entfremdet und nur zum Gelegenheitsbesuch
geeignet. Es ging sicher vielen anderen Flüchtlingen ebenso. Der letzte Schlag
kam als das Konservatorium dann in die Hochschule einverleibt wurde: einige RSK
Professoren wurden gleichbürtig in die Hochschule übernommen, aber Dima wurde
übergangen und bekam Zweitfachstudenten und sogar Gruppenunterricht. Vermutlich
hatte er sich nicht genug um Networking und Schmeichelei gekümmert um sich als
fähiger Professor zu beweisen. In erster Linie war das eine kolossale Dummheit
der Hochschule, aber für Dima war es das Zeichen, daß ihm keine Zukunft blieb.
Er zog sich ganz zurück in ein Leben mit nur ganz wenigen Freunden und kaum
öffentlicher Tätigkeit.
Dima hat vielen Menschen, Schülern und Musikliebhabern geholfen und wertvolle
Momente geschenkt, und sie werden dankbare und herzliche Erinnerungen an ihn
haben, und über seinen einsamen Tod trauern. Abgesehen von seinem Hang, andere
plötzlich abzuschneiden und gelegentlich persönliche Vorwürfe zu machen habe ich
nie von anderen Beschuldigungen gegen ihn gehört, in einer Welt wo Eitelkeit,
Manipulation, Korruption und Sexismus gang und gäbe sind. In dieser Hinsicht
halte ich Dima für einen von Grund aus anständigen Menschen mit einem tiefen
moralischen Sinn, aber eben einen mit großen persönlichen Unsicherheiten was
seine Stellung in der Welt und unter seinen Mitmenschen betraf. Als ich ihn 1989
anrief um ihm vom Tode von Vladimir Horowitz zu unterrichten war sein Kommentar:
„Na, der Glückliche, endlich ist er diese schlimme Welt los“. Ich hoffe, Dima
ist jetzt im Frieden mit dieser schlimmen Welt, und daß er weiß, wie viel
Bewunderung und Dankbarkeit diese schlimme Welt für ihn hat.
Foto: Olga Salogina
Einige Skizzen von besonderen Momenten mit Dima:
Ein zauberhafter Abend bei mir zu Hause mit Dima und dem leidenschaftlichen
Kommunisten Nicolas Economou, und wie sie zusammen mit meiner tschechischen
Emigrantenmutter Wodka tranken und alte kommunistische Lieder sangen. Dima
sprach selten über Politik, abgesehen von den üblichen Klagen über Korruption
usw. Ich hatte keine Ahnung was seine eigene politische Haltung war.
Ein Besuch im Münchner Zoo mit Dima. Wir kamen gerade zum Löwengehege als ein
müder und gelangweilter Löwe sich auf eine noch müdere und gelangweiltere Löwin
schleppte um zu paaren. „Wie schön, sie haben auf uns gewartet!“ sagte Dima.
Gemeinsames Radeln durch die Wälder im Süden Münchens. Dima konnte manchmal
überraschend gesundheitsbewußt sein.
Alte Aufnahmen anhören in Dimas Haus. In jenen Tagen der Schallplatte war es
viel schwieriger überhaupt von der Existenz alter Aufnahmen zu wissen. Bartók
mit Scarlatti, Egon Petri mit Schubert/Liszt Liedern zu hören war ein Erlebnis,
das durch Dimas Kommentare noch besonderer wurde.
Dimas Geschichten von seinem Leben in Moskau hören. Seine Bekanntschaft mit
Maria Yudina, seine Erzählungen von Oistrach, seine Berichte von seinem Nachbarn
Richter, der tagelang an der gleichen Symphonischen Etude arbeitete. Von
Blattspielwettbewerben im Konservatorium und von Radu Lupu, der auch verkehrte
Seiten vom Blatt spielen konnte. Von der Großzügigkeit von Schostakowitsch, von
seiner geplanten Ehe mit Elena Gilels. Von Dmitri Alexeev und wie Bashkirov ihn
vor der ganzen Klasse ausschimpfte als er nach seinem Sieg in Leeds sein
Wettbewerbsprogramm vorspielte.
Spaziergänge mit Dima durch London als ich am Trinity College studierte.
Seine merkwürdigen Eßgewohnheiten: getrocknete chinesische Nudeln in einem
Wasserkocher eingetaucht und dann mit geschmacksverstärkter Gewürzmischung
bedeckt. Nach ein paar Tagen davon fühlte man sich sehr eigenartig!